Strukturanalogien zwischen Musik und visuellen Künsten
3 Musikalische Analogien zur bildenden Kunst
3.1 Räumliche Beziehungen zwischen Formen und Flächen
Ähnlich wie die bildenden Künste sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Musik zum Vorbild für die Darstellung von Bewegung und Zeitlichkeit nahmen, orientierte sich die Musik in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an den bildenden Künsten hinsichtlich der Umsetzung räumlicher Strukturen. Die Strukturierung des Bildraums, die Beziehungen zwischen verschiedenen Formen oder auch das Verhältnis unterschiedlicher Bildebenen sollten nun auf die Organisation des Klangmaterials übertragen werden. Durch die Bezugnahme auf ganz verschiedenartige Werke oder Künstler kamen dabei ganz unterschiedliche Konzepte zum Einsatz.
Pierre Boulez war beispielsweise vom systematischen Aufbau von Paul Klees Gemälde Monument an der Grenze des Fruchtlandes (1929) so fasziniert, dass es ihm als Orientierung für sein Klavierduo Structure Ia (1951) diente, seinem ersten seriellen Werk. Während Klee eine Reihe von viereckigen Flächen systematisch durchgestaltete, indem er deren horizontale Teilungslinien von links nach rechts schrittweise reduzierte und die Flächen dadurch vergrößerte, entstand bei Boulez durch die Determinierung sämtlicher musikalischer Parameter eine extrem rationale Musik, die man mit den Begriffen Genauigkeit, Strenge und sichtbares Ordnungsprinzip, mit denen Boulez das Bild Klees beschrieb, gut charakterisieren kann.[6] Morton Feldman übertrug in Intermission 4 und Intermission 5 für Klavier (1952) die All-over-Struktur von Bildern Jackson Pollocks, die keine zentrale Gewichtung mehr haben und über die Grenzen der Leinwand hinauszureichen scheinen, auf seine Kompositionen, indem jedem Klang die gleiche Wichtigkeit zukommt und es kein Zentrum der Komposition gibt, keinen klaren Anfang und keine Schlusswendung.
Earle Brown wiederum versuchte in December 1952 die sich in der Bewegung ständig verändernden Beziehungen der einzelnen Elemente eines Mobiles von Alexander Calder musikalisch umzusetzen. Seine Partitur besteht nur aus einer Vielzahl von schwarzen Rechtecken unterschiedlicher Länge und Breite, die horizontal und vertikal ausgerichtet über die Seite verteilt sind. Die Grundstruktur der Partitur ist eindeutig und unveränderbar, vergleichbar mit den einzelnen Bausteinen eines Mobiles. Für die konkrete Realisation des Stücks kann die Partitur jedoch beliebig gedreht werden, vergleichbar mit der sich kontinuierlich ändernden Ausrichtung eines Mobiles.
Olga Neuwirth bezog sich in ihrer Komposition Hooloomooloo für Ensemble mit Zuspielband (1997) auf das gleichnamige Triptychon aus der Serie Imaginary Places von Frank Stella (1994). Dort war es die dreidimensional wirkende, leicht unterschiedlich strukturierte Oberfläche jedes der drei Teile, die Neuwirth für eine eigene Komposition reizte. Sie wählte drei verschieden besetzte und im Raum verteilte Ensembles, in deren Wechsel sich räumliche Bewegungen analog zur Polarität von Räumlichkeit und Fläche im Bild ergeben. Zudem gab sie jedem Ensemble ein eigenes harmonisches Potenzial, indem sie jeweils die Skordatur der Streichinstrumente veränderte. So entstanden Analogien zur Polarität von Vordergrund und Hintergrund im Bild.[7]