Strukturanalogien zwischen Musik und visuellen Künsten

2.3 Kompositionstechniken: Kontrapunkt und Permutation

Mit der Erstellung von bildgestalterischen Proportionsverhältnissen nach dem Vorbild der Musik ging Anfang des 20. Jahrhunderts eine Übertragung von kompositorischen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen einher, wobei aufgrund der verstärkten Bach-Rezeption dieser Zeit die polyphone Komposition der Fuge im Vordergrund stand.

In der Regel wurde dabei nicht eine bestimmte Fuge als Ausgangsmaterial genommen, noch nicht einmal generell das Formmodell einer Fuge, sondern eher das musikalische Prinzip des Kontrapunktes, das man auch durch die Begriffe Gegenstimmen oder Gegenmotive ersetzen kann.[5] Zu erkennen ist eine horizontale Anordnung der aufeinander bezogenen Motive und damit nicht nur eine Orientierung am zeitlichen Ablauf eines Musikstückes, sondern auch an der motivischen Verästelung innerhalb einer musikalischen Fuge.

So arbeitete Eggeling ab 1915 an einem Generalbass der Malerei und beschäftigte sich, inspiriert durch den futuristischen Musiker Ferruccio Busoni, mit dem musikalischen Kontrapunkt. Daraus entwickelte er das Konzept eines auf einer Polarität von Gegensatzpaaren abstrakter Elemente beruhenden optischen Kontrapunktes im Sinne einer visuellen Kompositionslehre, das er in seinem Film Symphonie diagonale (1924) umzusetzen versuchte.

Auch Itten orientierte sich an der kontrapunktischen Arbeitsweise als kombinatorisches Prinzip: In Der Bachsänger (1916) wird die Gestalt des Bachsängers symbolhaft eingesetzt, um eine Bildstruktur zu entwickeln, deren Vielschichtigkeit, Transparenz und vor allem kristalline Strenge der Polyphonie Bachscher Fugen entsprechen soll. Die an den musikalischen Terminus angelegte Kontrapunktik der Farben beruht auf einer ausgefeilten Bildkonstruktion, die den Proportionen des Goldenen Schnittes folgt.

Den stärksten Bezug auf Bach und die Fuge nahm Paul Klee mit seinen Ideen einer polyphonen Malerei. Den Begriff polyphon entlieh Klee der Musik, um einen Bildaufbau aus mehreren sich gegenseitig durchdringenden und überlagernden Bewegungen verschiedener Bildelemente zu beschreiben, der eine simultane visuelle Vielstimmigkeit, einen Zusammenklang der bildnerischen Mittel hervorbringt. So verwendete er beispielsweise in Polyphon gefaßtes Weiß (1930) eine kreisförmige, sich nach allen Seiten erstreckende Schichtung der Farben, während sich in der Fuge in Rot (1921) heranwachsende Farbformen in einer horizontal von Dunkel nach Hell gestaffelten Progression wie Fugenstimmen überlagern.

Was Klee an dieser Kompositionsmethode aus der Musik interessierte, notierte er bereits 1917 in sein Tagebuch: Die polyphone Malerei ist der Musik dadurch überlegen, als das Zeitliche hier mehr ein Räumliches ist. Der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reicher hervor.

Ähnliche Transfers des Prinzips der Fuge als einer Verschachtelung und Entwicklung von Stimmen finden sich unter anderem bei Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (Fuge, aus dem Diptychon Präludium und Fuge, 1907) oder bei Josef Albers (Fuge, 1925).

Neben der kontrapunktischen Entwicklung von visuellen Strukturen wurden aber auch permutative bzw. mathematisch basierte Methoden aus der Musik zur bildnerischen Konstruktion herangezogen.

So stellten John und James Whitney in Anlehnung an Kompositionsprinzipien der Zwölftonmusik für ihre Five Film Exercises (1943/1944) serielle Permutationen eines Sets geometrischer Formen her, eine Praxis, die John Whitney später mittels analoger Computer weiterentwickelte. Mary Ellen Bute verwendete Joseph Schillingers mathematisch gesteuertes Kompositionssystem und Peter Kubelka entwickelte die Struktur seiner metrischen Filme mittels arithmetischer Verfahren in Partituren.

Neben solchen prinzipiellen Übertragungen finden sich auch Beispiele für exakte visuelle Transformationen einzelner musikalischer Werke. Hierzu gehören die Arbeiten von Heinrich Neugeboren (Bach-Monument, 1928/1968–1970), Robert Strübin (Musikbild J. S. Bach, Große Fuge g-Moll für Orgel, 1957) oder Luigi Veronesi (Chromatische Visualisierung: J. S. Bachs Kontrapunkt Nr. 2 aus ›Kunst der Fuge‹, 1971), die Fugen in eine visuelle Form überführten. Solche Übertragungen sind optische Darstellungen von Werkbeschreibungen als Vorstufe der Analyse. Neugeboren ging es nicht um stimmungsgemäße persönliche Umdeutungen, sondern um wissenschaftlich exakte Übertragungen in ein anderes System. (Heinrich Neugeboren, zit. nach Heinrich Poos, »Henrik Neugeborens Entwurf zu einem Bach-Monument (1928). Dokumentation und Kritik«, in: Elisabeth Schmierer u. a. (Hg.), Töne – Farben – Formen. Über Musik und die Bildenden Künste. Festschrift Elmar Budde, Laaber 1995, S. 45–57, dort S. 48.)  
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