Musikalisches im abstrakten Film

1 Absoluter Film

Die Anfänge des abstrakten Films sind in den 1910er Jahren zu vermuten, kurz nach der kulturumwälzenden Innovation der abstrakten Malerei, die sich hinsichtlich des nicht-mimetischen Umgangs mit künstlerischem Material an der Musik orientiert hatte. Der Futurist Bruno Corra beschreibt in einem 1912 erschienenen Artikel mit dem programmatischen Titel Abstract Cinema – Chromatic Music die filmischen Experimente, die er mit seinem Bruder Arnaldo Ginna durchgeführt hat.[1] Jedoch ist weder eines dieser frühen Experimente erhalten noch ist die Aufführung eines abstrakten Films aus dieser Zeit dokumentiert.

Daher beginnt die gesicherte Geschichte des abstrakten Films mit dem Werk Lichtspiel opus 1 von Walter Ruttmann, das 1921 in Berlin uraufgeführt wurde. Lichtspiel opus 1 ist ein gemalter, handkolorierter Animationsfilm, zu dem eine von Max Butting komponierte Musik live aufgeführt wurde. Ab 1923 wurden die Rhythmus-Filme von Hans Richter unter verschiedenen Titeln gezeigt[2], 1925 die Diagonalsymphonie von Viking Eggeling. An diesen ersten Werken lassen sich bereits wesentliche Elemente des abstrakten Films aufzeigen: Alle drei Schöpfer waren bildende Künstler und verstanden ihre Werke auch als Malerei mit Zeit[3]. Sie wollten in ihren Filmen die Beziehungsverhältnisse zwischen Formen in ihrer zeitlichen Entwicklung untersuchen und machten diese enge Anlehnung an musikalische Prinzipien in den Filmtiteln deutlich. Zugleich bestehen zwischen diesen Pionierarbeiten auch wesentliche Unterschiede: Lichtspiel opus 1 hatte eine eigene, für den Film geschriebene Partitur, der Film arbeitet daher mit aufeinander abgestimmten auditiven und visuellen Rhythmen, wohingegen die Diagonalsymphonie bewusst stumm intendiert war, den Rhythmus also allein über das Bild herstellt. Richters Filme hingegen wurden mal mit, mal ohne musikalische Begleitung vorgeführt.

Aber schon früh kam es zu einer Zäsur des abstrakten Films: 1925 wurden in Berlin im Rahmen der Matinee Der Absolute Film nicht nur deutsche abstrakte Filme aufgeführt, sondern auch französische Arbeiten wie Ballet mécanique (FR 1924) von Fernand Léger und Dudley Murphy sowie Entr’acte (FR 1924) von René Clair. Sowohl Ruttmann als auch Richter wandten sich in der Folge vom abstrakten Film ab; Eggeling verstarb 1925. Im Unterschied zu den deutschen Filmkünstlern zielten Léger, Murphy und Clair nicht auf eine Übersetzung von Musik in abstrakte Formen, sondern verwendeten Realaufnahmen, die sie nach Prinzipien der Collage und Montage zusammenfügten. In der engen Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten wie George Antheil und Erik Satie strebten sie eine Synthese der Ton- und Bildkunst im Film an.

Die Tradition des deutschen abstrakten Films wurde von Oskar Fischinger fortgeführt, der gleich drei wesentliche Neuerungen einbrachte: R1. Ein Formspiel (DE 1926/1927) ist eine stumme Mehrfachprojektion, die in ihrem atemberaubenden Tempo auch heute noch überrascht: Ein aus Farblichtspielen entwickelter Vorläufer des Expanded Cinemas.

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