Grenzlinienkunst

Die experimentellen Kompositionen von John Cage wurden in den 1950er-Jahren zu einem zentralen Bezugspunkt für zahlreiche Künstler und Künstlerinnen, die die Konventionen dessen, was als bildende Kunst und was als Musik zu gelten hat, aufbrachen und sie damit auch indirekt zum Thema machten. Cages philosophische, experimentelle und konzeptionelle Herangehensweise an Musik – als Organisation von Klängen und Ereignissen – und seine durch den Zufall gesteuerten Kompositionen bahnten seit den späten 1930er-Jahren einer völlig neuen Vorstellung von künstlerischer Gestaltung den Weg. In John Cages radikalstem Stück 4′33″ (1952), in dem das Publikum allein sich selbst zuhört – seiner konzentrierten Stille, seinem Räuspern, Scharren und Husten –, werden die Grundbausteine und Determinanten des künstlerischen Werks und die institutionellen Bedingungen der Produktion direkt zum ästhetischen Material. Das Publikum – über die Rezeption ohnehin Teil jedes Werks – produziert dabei selbst die Komposition. Wie Cage betont, ist es so möglich, eine musikalische Komposition zu machen, die frei ist von individuellem Geschmack, Erinnerung (Psychologie) sowie von Literatur und Traditionen der Künste.[1] Die Folgen dieses Ansatzes waren enorm: Die Auseinandersetzung mit den institutionellen und produktionsspezifischen Rahmenbedingungen und Konventionen von Kunst gehörte von nun an zu den Grundbestandteilen avancierter Kunstproduktion. Der Kunsttheoretiker Diedrich Diederichsen spricht diesbezüglich gar von der Konzeption einer neuen bildenden Kunst aus dem Geiste der Musikphilosophie. Durch den Einfluss von Cage, der am Black Mountain College und Ende der 1950er-Jahre an der New School for Social Research in New York unterrichtete, betrat ein neuer Künstlertypus die Bildfläche: der Komponist konzeptueller Werke. Im Zusammenhang mit der beginnenden Fluxusbewegung entwickelten Künstler und Künstlerinnen wie Yoko Ono, George Brecht und La Monte Young eine spezielle Art von Notation, die als sogenannte Event Scores berühmt wurde. Yoko Ono beschreibt darin beispielsweise ganz alltägliche Handlungen und Anweisungen, die – inspiriert von ihrer Auseinandersetzung mit Zen – die Ausführenden in direkten Kontakt mit sich selbst bringen sollten. 1960 mietete sie ein Loft in der Chambers Street und organisierte dort eine siebenmonatige Konzertreihe, unter anderem kuratiert von La Monte Young, mit den wichtigsten avantgardistischen Musikern, Poeten, Tänzern und Künstlern, die damals in New York experimentierten. Die Frage, ob diese Chambers Street Series nun Musik oder Kunst war, wurde nicht gestellt, weil ein neuer Begriff dafür gefunden war: Fluxus (fließend, von lat. fluo fließen) – Künstler übertrugen die befreiten Kompositionsmethoden auf visuelles, klangliches, kontextuelles und aufführungsbezogenes Material. Auch andere Begrifflichkeiten zirkulierten für die neuen Praktiken: George Maciunas, ein wichtiger Initiator der Bewegung – der 1960 den Begriff Fluxus für die Publikation der Künstlergruppe aufgriff –, bezeichnete die ersten Aufführungen als Actionmusic, weil Sichtbares und Hörbares sich überlappten. Nam June Paik nannte seine erste große Ausstellung, die er 1963 im Privathaus eines Architekten inszenierte, Exposition of Music – Electronic Television. Yoko Ono sprach von einer Music of the Mind, während George Brecht seine Arbeiten als Grenzlinienkunst bezeichnete, bei der die Gattungen erhalten bleiben. Ein und dasselbe Event kann dabei als Literatur, als Bild oder Musik realisiert werden, weil Grenzlinienkunst als ein kontinuierliches Feld gedacht ist, das‚ überall auf einer fortlaufenden Linie‘ überschritten werden kann.[2] Berühmt geworden ist Dick Higgins’ Statement on Intermedia, in dem Kunst als eine Form der Kommunikation beschrieben wird, der die veralteten Gattungen nur noch als Referenz dienen. Auch wenn Fluxus heute vor allem durch den Vaudeville-Charakter seiner Festivals und seine Editionen bekannt ist, stellt die Entwicklung der Event Scores und der experimentellen Komposition einen entscheidenden Schritt zur Etablierung konzeptueller Kunst dar. Dan Graham beschrieb die veränderte Situation in seinem Text Subject Matter von 1969 wie folgt: We are no longer facing an object which is outside somewhere but the compositional process itself. We are composing the composition.

John Cage, 4′33″, 1952

John Cage, Water Music, 1952

Atsuko Tanaka, Work (Bell), 1955

George Brecht, Motor Vehicle Sundown (Event), 1960

George Brecht, Water Yam, 1963

George Maciunas, Music for Everyman, 1961

Robert Morris, Box with the Sound of Its Own Making, 1961

Tony Conrad, Three Loops for Performers and Tape Recorders, 1961

Yoko Ono, Voice Piece for Soprano, 1961

Yoko Ono, Snow Falling at Dawn, 1965

Yoko Ono, Music of the Mind, 1967

Nam June Paik, Random Access, 1963

Nam June Paik, Exposition of Music, 1963

La Monte Young, An Anthology, 1963

Pauline Oliveros, To Valerie Solanas and Marilyn Monroe in Recognition of their Desperation, 1970

Gottfried Bechtold, Medienkoffer, 1972

John Baldessari, Baldessari Sings LeWitt, 1972

Christian Marclay, Sound of Silence, 1988

Rodney Graham, Lobbing Potatoes at a Gong 1969, 2006