Gesamtkunstwerk

4 Wagner und das Kunstwerk der Zukunft

Der Begriff des Gesamtkunstwerks wird im Allgemeinen auf Richard Wagner zurückgeführt.[13] Angespornt durch sein politisches Engagement als Barrikadenkämpfer während der bürgerlichen Revolution in Dresden 1849, wird in ihm die Forderung nach einer grundsätzlichen Veränderung der Rolle der Künste in der Gesellschaft entfacht.

In seiner noch im gleichen Jahr erschienenen Schrift Die Kunst und die Revolution erkennt Wagner ähnlich wie schon Schelling vor ihm das antike Drama als das höchste erdenkliche Kunstwerk.[14] Der politische Verfall des athenischen Staats leitete nach Wagner auch den kulturellen Verfall der Tragödie ein: Wie sich der Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte, löste sich auch das große Gesamtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandteile auf.[15] Der zwei Jahrtausende andauernden Auflösung des Dramas in seine Bestandteile begegnet Wagner mit der Sehnsucht nach einem vollendeten Kunstwerk, der große, einige Ausdruck einer freien schönen Öffentlichkeit.[16] Erst die revolutionäre Veränderung der Menschheit gewähre die Wiedergeburt der griechischen Tragödie: Umfasste das griechische Kunstwerk den Geist einer schönen Nation, so soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen.[17] Diese Zeit spürt Wagner herannahen.

Die zweite in jenen Revolutionsjahren verfasste Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (1849) vertieft die utopischen, mit politischem Wunschdenken beladenen Gedanken zum Gesamtkunstwerk. Wagner fordert die Überwindung egoistischer Bestrebungen durch ein in der Gemeinschaft entstehendes Kunstwerk der Zukunft.[18] Es findet eine Rückbesinnung auf den dreieinigen Ausdruck menschlicher Kunst statt: Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst.[19] Das musikalische Drama verkörpert für Wagner die höchste Vereinigung der Einzelkünste: Nur wo Auge und Ohr sich gegenseitig seiner Erscheinung versichern, ist aber der ganze künstlerische Mensch vorhanden.[20] Als Künstler der Zukunft sieht Wagner den Dichter an, sowohl den Sprach- als auch den Tondichter. Doch nur wenige Jahre später verändert Wagner durch die Lektüre des Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) seine Ansicht zur Musik – ganz zum Erzürnen seines langjährigen Verehrers Friedrich Nietzsche (1844–1900), der ihm Verrat an den alten Idealen vorwirft und in der von Wagner propagierten Vereinnahmung aller Künste nur eine Machart sieht, die Masse zu erreichen.[21] Mit der Feststellung Schopenhauers, Die Musik ist die wahre allgemeine Sprache, die man überall versteht, bekommen die Ambitionen Wagners ihren finalen Impuls.[22] 1870 verkündet er in einer Festschrift, dass durch ihn (Beethoven), da er denn in der reinsten Sprache aller Völker redete, der deutsche Geist den Menschengeist von tiefer Schmach erlöste.[23]

Durch Richard Wagner werden zudem erstmals theoretisch formulierte Ideen zum Gesamtkunstwerk in einem größeren Umfang in die Praxis überführt. Mit der Errichtung des Festspielhauses in Bayreuth (1872–1876) gelingt es Wagner, einen permanenten Aufführungsort seiner Werke zu schaffen. Einer seiner wichtigsten baulichen Vorgaben zur adäquaten Umsetzung seiner Oper ist der versteckte Orchestergraben, der eine neuartige, fast kinematografische Wahrnehmung von Bühnendrama und Opernmusik erlaubt. Musik konnte als von der empirischen Wirklichkeit transzendiert wahrgenommen werden

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