Grafische Notation und musikalische Grafik

2.2 Europäische Entwicklung

Zum einen kann die Entwicklung grafischer Notation als Indikator für Veränderungen in der Musik[8] verstanden werden, wobei vor allem kontinuierliche Klangprozesse einen zunehmend größeren Stellenwert in der zeitgenössischen Kompositionspraxis einnehmen.

Mithilfe grafischer Notationszeichen sind diese kontinuierlichen Klangbewegungen nun fixierbar, während die herkömmliche Notenschrift lediglich diskret Tonhöhen und -dauern symbolisiert.[9]

Mit der Auflösung der diskreten Notation geht zum anderen auch die Preisgabe des Werkbegriffs einher, weil die häufig mehrdeutigen und offen verwendeten grafischen Formen die Kriterien für Geschlossenheit nicht mehr erfüllen.

Anestis Logothetis (1921–1994) unterscheidet seine grafische Notation (ab 1958) trotz deren klarer Bildhaftigkeit von musikalischen Grafiken, die er als Improvisationsmittel versteht.[10] Er verwendet Symbole, assoziative Zeichen und Aktionsschrift in seinen grafischen Notationen, welche die herkömmliche Leserichtung aufheben.[11]

Hingegen scheint es Sylvano Bussotti (geb. 1931) gerade um den Übergang zwischen Zeichen (Notenschrift) und Zeichnung (musikalische Grafik) zu gehen, wenn er Notenlinien am Ende der Zeile aufspaltet oder sich verwirbeln lässt. Die musikalischen Aufzeichnungen realisieren eine Skala von der bekannten Notenschrift bis zur unbekannten Zeichnung. [12]

Der Begriff musikalische Grafik wurde von Roman Haubenstock-Ramati geprägt,[13] der 1959 in Donaueschingen eine Ausstellung von musikalischen Grafiken durch die Universal Edition initiierte. Ein Beispiel für seine teilweise als Serie angelegten musikalischen Grafiken ist Pour Piano (1971).

Meist soll eine musikalische Grafik dem Betrachter oder Interpreten auch Ausdruckselemente erschließen, wozu die symbolisch-normierte Notenschrift nicht in der Lage ist.[14] Die Ausdrucksqualitäten, die bei in traditioneller Notenschrift notierter Musik nur in der Aufführung erlebbar sind, können in musikalischer Grafik unmittelbar aus der Bildwirkung hervorgehen. So wird eine nur gelesene Musik denkbar: Dieter Schnebels Mo-No. Musik zum Lesen (1969) ist ein Buch mit musikalischen Grafiken, deren Ziel einzig imaginierter Klang ist. Schnebel mischt Klangerinnerungen in Form von Notenzitaten, kreative Klangvorstellung in musikalischen Grafiken und still gelesene Textfragmente.

Schon in den 1950er Jahren geht Iannis Xenakis (1922–2001) von einer Übersetzbarkeit von räumlichen in klangliche Strukturen aus. Er entwickelte das UPIC[15], einen Computer mit grafischer Eingabe über einen Stift, der Zeichnung direkt in Klang transformiert.

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