Die musikalische grafische Notation ist eine schriftliche Darstellung von Musik, die sich keiner oder nur einiger Elemente der traditionellen Notenschrift[1] bedient. Grafische Notation ist oft eine freie, vieldeutige Notationsart, deren Zeichen und Lesarten in einer Legende oder einem Textkommentar erklärt werden.
Die musikalische Grafik hingegen hat einen ästhetischen Eigenwert als visuelle Kunst und muss nicht durch ihre Übersetzbarkeit in Musik definiert werden. Wie Bildpartituren, also Bilder statt Grafiken, ist die musikalische Grafik ohne Darstellungsabsicht einer konkreten Musik entworfen worden, kann aber in Musik übersetzt werden.[2]
Innerhalb der New York School of Composers um John Cage entstanden mit Morton Feldmans Projection 1950 erste grafische Notationen und mit Earle Browns December 1952 auch musikalische Grafiken. Der Begriff musikalische Grafik wurde allerdings von Roman Haubenstock-Ramati in Europa geprägt, wo Ende der fünfziger Jahre eine musiktheoretische Auseinandersetzung einsetzte, die vor allem um die Auflösung des Werkbegriffs und der Autonomieästhetik kreiste. Mit der musikalischen Grafik beschäftigten sich ab den 1970er Jahren vermehrt bildende Künstler und es entwickelte sich eine eigene Interpretationsrichtung improvisierender Performance-Künstler.
Andere Kategorisierungen von Notation benennen ihre Funktion. So sind Hörpartituren deskriptive, nach der Aufführung entstandene grafische Darstellungen von Musik, meist für Tonband, das möglicherweise mittels einer Realisationspartitur hergestellt wurde. Realisationspartituren haben mit der Aktions(vor)schrift gemein, dass die klangerzeugende Aktion, nicht das klingende Resultat, beschrieben wird. Sie sind also präskriptiv.
[1] Zur Entstehung und Geschichte der Notenschrift siehe Willi Apel, Die Notation der polyphonen Musik 900–1600, Leipzig 1970; und siehe Johannes Wolf, Handbuch der Notationskunde (1913), Wiesbaden 1963.
[2] Ausführlicher in: Helga de la Motte-Haber, Musik und Bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber 1990, S. 53 und S. 227.
Bereits um 1400 finden sich mit figuralen Notenschriften Vorläufer der grafischen Notation. Hierbei sind die Notenlinien in Herz-, Kreis- oder Kreuzform angeordnet und haben neben ihrem dekorativen Charakter oft auch die Form eines Rätselkanons.
Zeichnungen auf Notenpapier, wie Moritz von Schwinds (1804–1871) Katzensymphonie[1], gibt es im 19. Jahrhundert häufiger.[2] Die Partitur hat sich zu diesem Zeitpunkt schon als Text verselbstständigt und steht unabhängig von der Aufführung des Werkes als autonome, zeitunabhängige Grundlage der Idealform zur Verfügung.
In den 1920er Jahren gibt es verschiedene Versuche, die Grenzen zwischen den Kunstgattungen zu überwinden. Gleichzeitig nehmen sich die bildenden Künstler die Musik als Vorbild einer abstrakten Kunst. Neben Paul Klees grafischer Darstellung eines Stückes von Bach 1921/22 Fuge in Rot entwickelt Wassily Kandinsky 1923 eine grafische Darstellung von Musik, indem er den Anfang von Beethovens fünfter Sinfonie in Punkte übersetzt.[3] Abstrakte Grafiken auf Notenpapier zeichnete der Bauhaus-Schüler Karl Peter Röhl bereits 1926.[4]
Ab 1950 entwickelte die New York School of Composers (John Cage, Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff) neue Notationsformen. Zentral ist darin die Kategorie der Unbestimmtheit oder Indetermination, durch die der Komponist dem Interpreten Entscheidungsfreiheit lässt.[5] Morton Feldmans Komposition Projection 1 (1950) in graph (paper) notation ist indeterminiert bezüglich ihrer Tonhöhen. Allerdings gibt Feldman drei verschiedene Register vor und damit einen Rahmen, innerhalb dessen der Interpret die Tonhöhen wählen muss.
Indeterminiert ist auch das Aufführungsmaterial von John Cages Cartridge Music (1960) und einigen Kompositionen aus der Variations-Reihe (1958–1967), das aus verschiedenen bedruckten Folien besteht, die der Interpret für jede Aufführung neu übereinanderlegt und nach Cages Anweisungen interpretiert. Dabei geben die abgelesenen Werte oft Aktionen und keine klanglichen Resultate an. Im Concert for Piano and Orchestra (1958) stellt Cage für den Klaviersolopart ein Kompendium verschiedener Notationen zusammen.
Earle Browns December 1952 aus der Serie Folio gilt als erste musikalische Grafik (graphic music). Instrumentation, Tonhöhen und Rhythmus sind hier ebenso wie die Leserichtung und Drehung des Blattes unbestimmt. Der an Jazz-Musik interessierte Komponist Brown wollte mit solchen Grafiken Anregungen für improvisierende Interpreten geben.[6] Während Brown mit der spontanen Umsetzung eines bildlichen Eindrucks auf eine Improvisation zielte, vermieden Feldman und Cage den Begriff Improvisation und verlangten eine detaillierte Ausarbeitung und Planung der jeweiligen Aufführung.
Die Kompositionen der New York School of Composers spielte in den fünfziger Jahren hauptsächlich David Tudor (1926–1996), einer der führenden Interpreten zeitgenössischer Klaviermusik. Er realisierte die indeterminierten Stücke, indem er eine Spielpartitur ausarbeitete: Alle vom Interpreten zu treffenden Entscheidungen legte er in einer Probenphase fest und schrieb diese nieder.
Tudor trat zwischen 1956 und 1962 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik auf. Viele europäische Komponisten eigneten ihm Werke zu: Sylvano Bussotti schrieb über seine Five Piano Pieces for David Tudor 1959: Das Element for David Tudor im Titel ist keine Widmung, sondern gleichsam eine Instrumentenangabe. […] Vielfach bleibt das Schallereignis, das solche Zeichnungen auslösen mögen, in den Händen des Pianisten.[7]
Zum einen kann die Entwicklung grafischer Notation als Indikator für Veränderungen in der Musik[8] verstanden werden, wobei vor allem kontinuierliche Klangprozesse einen zunehmend größeren Stellenwert in der zeitgenössischen Kompositionspraxis einnehmen.
Mithilfe grafischer Notationszeichen sind diese kontinuierlichen Klangbewegungen nun fixierbar, während die herkömmliche Notenschrift lediglich diskret Tonhöhen und -dauern symbolisiert.[9]
Mit der Auflösung der diskreten Notation geht zum anderen auch die Preisgabe des Werkbegriffs einher, weil die häufig mehrdeutigen und offen verwendeten grafischen Formen die Kriterien für Geschlossenheit nicht mehr erfüllen.
Anestis Logothetis (1921–1994) unterscheidet seine grafische Notation (ab 1958) trotz deren klarer Bildhaftigkeit von musikalischen Grafiken, die er als Improvisationsmittel versteht.[10] Er verwendet Symbole, assoziative Zeichen und Aktionsschrift in seinen grafischen Notationen, welche die herkömmliche Leserichtung aufheben.[11]
Hingegen scheint es Sylvano Bussotti (geb. 1931) gerade um den Übergang zwischen Zeichen (Notenschrift) und Zeichnung (musikalische Grafik) zu gehen, wenn er Notenlinien am Ende der Zeile aufspaltet oder sich verwirbeln lässt. Die musikalischen Aufzeichnungen realisieren eine Skala von der bekannten Notenschrift bis zur unbekannten Zeichnung. [12]
Der Begriff musikalische Grafik wurde von Roman Haubenstock-Ramati geprägt,[13] der 1959 in Donaueschingen eine Ausstellung von musikalischen Grafiken durch die Universal Edition initiierte. Ein Beispiel für seine teilweise als Serie angelegten musikalischen Grafiken ist Pour Piano (1971).
Meist soll eine musikalische Grafik dem Betrachter oder Interpreten auch Ausdruckselemente erschließen, wozu die symbolisch-normierte Notenschrift nicht in der Lage ist.[14] Die Ausdrucksqualitäten, die bei in traditioneller Notenschrift notierter Musik nur in der Aufführung erlebbar sind, können in musikalischer Grafik unmittelbar aus der Bildwirkung hervorgehen. So wird eine nur gelesene Musik denkbar: Dieter Schnebels Mo-No. Musik zum Lesen (1969) ist ein Buch mit musikalischen Grafiken, deren Ziel einzig imaginierter Klang ist. Schnebel mischt Klangerinnerungen in Form von Notenzitaten, kreative Klangvorstellung in musikalischen Grafiken und still gelesene Textfragmente.
Schon in den 1950er Jahren geht Iannis Xenakis (1922–2001) von einer Übersetzbarkeit von räumlichen in klangliche Strukturen aus. Er entwickelte das UPIC[15], einen Computer mit grafischer Eingabe über einen Stift, der Zeichnung direkt in Klang transformiert.
Mit der Entstehung der gattungsübergreifenden Klangkunst nehmen auch die musikalischen Grafiken von bildenden Künstlern stark zu. Bei ihnen ist das Interesse an der individuellen Handschrift der musikalischen Grafiken größer als bei Komponisten, denen es um die Etablierung eines neuen normativen Zeichenkanons ging. Nelson Goodman unterscheidet hier autographische künstlerische Handschrift von allographischer Notation, die normierbar und damit reproduzierbar ist und von der es kein Original gibt.[16]
Mitte der 1970er Jahre wenden sich einige bildende Künstler dem Grenzbereich zur Musik zu. Ab 1976 schafft der als Musiker ausgebildete Künstler Gerhard Rühm (geb. 1930) visuelle Musik, die auf den Interpreten verzichtet beziehungsweise dem Lesenden diese Rolle zuspricht.[17] Neben lesemusik, freien Zeichnungen auf Notenpapier mit oder ohne Instrumentenangaben, gibt es notenüberzeichnungen, bei denen die Noten eines gedruckten Musikstückes mit Bleistift geschwärzt sind, so dass musikalische Dichteverläufe visuell hervorgehoben werden.
Als Klangkünstler beschäftigt sich Rolf Julius mit der Gestaltung von Klang, seiner Kombination mit visuellen Elementen und Positionierung im Raum sowie mit dem assoziativen Potenzial, das seine musikalischen Grafiken wie die Song Books für Musiker haben.
Der Künstler William Engelen (geb. 1964) transkribiert in Verstrijken (2007) Tagesabläufe von Musikern in eine grafische Partitur, nach der die Musiker wiederum spielen. Die Aufzeichnungen sind gleichzeitig für die Zuhörer sichtbar an der Wand angebracht.[18]
Hörpartituren sind nachträglich angefertigte Partituren, Transkriptionen, die Musik grafisch visualisieren und damit ein analytisches Wahrnehmen der Musik ermöglichen. Entstanden sind Hörpartituren vor allem zu elektroakustischer Musik wie György Ligetis Artikulation (1958), zu dem Rainer Wehinger 1970 eine Hörpartitur anfertigte.[19] In Kompositionen für Live-Interpreten mit Tonband werden oft Transkriptionen angefertigt, die eine grafische Darstellung des Tonbandparts in einem System über oder unter dem Instrumental- bzw. Vokalpart laufen lassen, um die Synchronisation des Interpreten mit dem Tonband zu erleichtern. Sie werden auch als Aufführungs- oder Spielpartitur bezeichnet. Eine eher analytische, nachträglich erstellte Partitur gibt es zu Karlheinz Stockhausens elektronischer Studie II,[20] deren dokumentarische Genauigkeit eine zweite Realisierung des Stückes erlaubt. Die Partitur zu Stripsody der Sängerin Cathy Berberian wurde nach ihren Anweisungen von einem Künstler ausgeführt.[21] Künstlerischen Anspruch haben auch Hörpartituren zu elektronischer Musik, wie etwa die im Jahr 2006 von Studierenden der Klassen von cyan, Daniela Haufe und Detlef Fiedler sowie Carsten Nicolai an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig gestalteten.[22]
Statt eines klanglichen Resultats, wie es Hörpartituren angeben, sind Aktionsschriften verbale oder grafische Anweisungen zur Ausführung einer Handlung, die ein klangliches Resultat hervorbringt. Ihre Nähe zur Bewegungsnotation wird vor allem im experimentellen Musiktheater etwa Mauricio Kagels deutlich. Mikrophonie von Karlheinz Stockhausen ist ein Beispiel für eine Aktionsschrift live-elektronischer Musik. Aktionsschriften wurden in Form von Tabulaturen, Griffschriften für Akkordinstrumente wie Lauten, zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert verwendet. Auch in der Notenschrift gibt es Aktionsvorschriften, wie beispielsweise sul ponticello, das sich auf den Bogenansatz bei Streichinstrumenten bezieht.
[1] Moritz von Schwind (1804–1871), Die Katzensymphonie (Le Chat Noir) (1868), Staatliche Kunsthalle Karlsruhe; Abb. online unter: http://www.onlinekunst.de/januar/21_01_2_Schwind.htm; siehe Abb. in: Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhundert, Karin von Maur (Hg.), Staatsgalerie Stuttgart, München 1985, S. 49.
[2] Siehe Grandville, Ronde, Tarantelle (1840) [Ein kreisförmiges Notensystem, in dem Strichmännchen tanzen.]; siehe Abb. in: Le Magasin pittoresque, 8, 31, 1840, S. 245.
[3] Kandinsky, »Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente«, in: Walter Gropius, Ladislaus Maholy-Nagy (Hg.), Bauhaus-Bücher, Bd. 9, Bern 1955, S. 44ff.
[4] Karl Peter Röhl (1890–1975), Abstrakte Folge (1926); siehe Abb. in: Karl Peter Röhl. Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik 1916–1961, Jens Christian Jensen (Hg.), Kunsthalle zu Kiel und des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins, Kiel 1979, S. 334f.; und in: Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhundert, Karin von Maur (Hg.), Staatsgalerie Stuttgart, München 1985, S. 24 und S. 207.
[5] John Cage »Indeterminacy« (1958), in: ders., Silence, Middletown 1973, S. 35–40.
[6] Earle Brown, »Notation und Ausführung Neuer Musik« in: Ernst Thomas (Hg.), Notation Neuer Musik (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 9), Mainz u.a. 1965, S. 64–86 und S. 76f.
[7] Vgl. Vorwort in: Sylvano Bussotti, Five Piano Pieces for David Tudor, Wien 1959.
[8] Vgl. Carl Dahlhaus, »Notenschrift heute«, in: Ernst Thomas (Hg.), Notation Neuer Musik (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 9), Mainz u.a. 1965.
[9] Ivanka Stoianova, »Musikalische Graphik«, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 9, 3–4, 1987, S. 283–299. Leider differenziert Stoianova nicht zwischen grafischer Notation und musikalischer Grafik.
[10] Anestis Logothetis, »Graphische Notation«, in: Hartmut Krones (Hg.), Anestis Logothetis. Klangbild und Bildklang (Komponisten unserer Zeit, Bd. 27), Wien 1998, S. 224.
[11] Anestis Logothetis, »Zeichen als Aggregatszustand der Musik«, in: Krones (Hg.), Anestis Logothetis, 1998, S. 32–75.
[12] Vgl. Vorwort in: Bussotti, Five Piano Pieces for David Tudor, 1959.
[13] Carl Dahlhaus, »Notenschrift heute« 1965, S. 30.
[14] Dort bedarf es verbaler Anweisungen.
[15] Unité Polyagogique Informatique du CEMAMu. Beim CEMAMu handelt es sich um das 1965 von Xenakis gegründete Centre d’Études de Mathématiques et Automatiques Musicales (Zentrum für Forschung in Mathematik und Musikautomation), siehe Iannis Xenakis, Formalized Music. Thought and Mathematics in Music (Musique formelles, 1963), Hillsdale-New York 1992, S. 329f.
[16] Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, 1968), Frankfurt/Main 1997, S. 112ff.
[17] Vgl. Gerhard Rühm, »Gesammelte Werke«, Michael Fisch (Hg.), 10 Bde., Bd. 2.2, Monika Lichtenfeld (Hg.), Visuelle Musik, Berlin 2006.
[18] William Engelen, »Verstrijken … die Zeit, die vergeht«, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik, Heft 76 (Alltag), August 2008, S. 44–45; und siehe William Engelen, Verstrijken. Audio works 1999–2008, Nürnberg 2008, vgl. http://www.william-engelen.de/project/verstrijken_ensemble/index.htm.
[19] William Engelen, »Verstrijken … die Zeit, die vergeht«, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik, Heft 76 (Alltag), August 2008, S. 44–45; und siehe William Engelen, Verstrijken. Audio works 1999–2008, Nürnberg 2008, vgl. Rainer Wehinger, Hörpartitur zu György Ligetis »Artikulation« (1958), Mainz 1970.
[20] Karlheinz Stockhausen, Studie II, Wien 1954.
[21] Cathy Berberian, Stripsody. Solo voice, New York, 1966. Grafik von Roberto Zamarin.
[22] Vgl. Sonambiente 2006, http://www.sonambiente.net/de/06_cooperations/6M2hgb_werk.html.
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