Musiktheater

3 Bild und Musik auf der Bühne – Modelle eines musikalischen Bildertheaters

Die entscheidenden Anstöße zur Entwicklung eines musikalischen Bildertheaters gingen schließlich nicht von Komponisten oder Theaterpraktikern aus. Ästhetisch wirksam wurden zunächst die Projekte und Experimente von bildenden Künstlern. Pionier war der aus Oberbayern stammende Hubert von Herkomer, der seit seinem zweiten Lebensjahr in den USA und in England lebte. Als sozialkritischer Grafiker sowie als Porträtmaler bedeutender Künstler und Gelehrter, wie Richard Wagner, John Ruskin und Alfred Tennyson, war von Herkomer zu beträchtlichem Reichtum gekommen. 1883 gründete er in dem Dorf Bushey bei London eine private Kunstschule, die er bis 1904 betrieb. Hier entstand im Laufe der Zeit eine Künstlerkolonie, die sich zu einem Zentrum der spät-viktorianischen Avantgarde entwickelte. In seinem Privathaus Lululand, benannt nach seiner zweiten Frau Lulu, richtete sich von Herkomer ein privates Theater ein, wobei er großen Wert auf eine moderne elektrische Beleuchtungstechnik legte. Als Darsteller auf dieser Bühne agierten Studenten der Kunstschule und von Herkomer selbst. Für die musikalische Gestaltung wurden prominente Musiker verpflichtet, u. a. der bekannte Wagner-Dirigent Hans Richter. Zur Aufführung kamen Bühnenwerke wie An Idyl (1883–1889), die von Herkomer als Erweiterung seiner bildnerischen Arbeit konzipierte und die in der Tradition der tableaux vivants oder living pictures standen. Von Herkomer sah darin eine Form des picture-making, in der das Musiktheater zum Instrument eines nahezu kinematografischen Bildbegriffs wird. In der Konsequenz führte ihn dies zunächst zu einer Beschäftigung mit prä-kinematografischen Techniken, in deren Kontext von Herkomer Eadweard Muybridge nach Bushey einlud, und schließlich zu einer Auseinandersetzung mit dem neuen Medium Film, in deren Folge er sein Theater 1913 in ein Filmstudio umwandelte.[5] Konzeptionelle Verbindungen bestanden auch zu der Entwicklung der Colour-Organ von Alexander Wallace Rimington, der anstrebte, Kompositionen sowohl visuell wie auch akustisch darzustellen, indem er Farbwerte und Töne in einer direkten Zuordnung miteinander verband.[6]

Für Wassily Kandinsky wurde die Beschäftigung mit der Regie-Arbeit Max Reinhardts, die er während eines Berlin-Aufenthaltes zwischen September 1907 und April 1908 kennenlernte, zum entscheidenden Einfluss für die Entwicklung seiner Theaterkonzepte. Ausschlaggebend war dabei vor allem die Mitarbeit bildender Künstler im Theater Reinhardts. Kandinsky ging von einer unmittelbaren Korrespondenz von Malerei, Theater und Musik aus. Bereits in den Skizzen zu seiner ersten Bühnenkomposition Schwarz und Weiß (1908/1909) verknüpfte er Bühnenhandlung mit detaillierter farblicher Gestaltung. Im Unterschied zu den an Analogiemodellen orientierten künstlerischen Positionen strebte Kandinsky jedoch keine direkte Korrespondenz von Bild und Ton an, vielmehr suchte der die Verbindung der verschiedenen Kunstformen durch gemeinsame Strukturprinzipien wie Bewegung und Rhythmus. Folgerichtig sind in Kandinskys Bühnenkomposition Der gelbe Klang (1909–1912, Uraufführung 1956) die szenischen Abläufe und die Farbgebung miteinander verbunden. Dokumentiert ist Der gelbe Klang als schriftlicher Text, das als endgültig fixiertes Regiebuch für sämtliche Aufführungen des Bühnenstücks dient. Nur die Gestaltung der Musik bleibt undefiniert.

Der Komponist Arnold Schönberg versuchte, mit seiner Oper Die glückliche Hand (1910– 1913) an Kandinskys Theaterkonzeption anzuschließen. In einem Brief vom 19. August 1912 schrieb Schönberg an Kandinsky: Der ›gelbe Klang‹ gefällt mir außerordentlich. Es ist ja ganz dasselbe, was ich in meiner ›Glücklichen Hand‹ angestrebt habe[7]. Während der Entstehungszeit stand Schönberg aber nicht nur in engem Kontakt mit Wassily Kandinsky und Oskar Kokoschka, sondern widmete sich selbst verstärkt der Malerei, die in der visuellen Ausgestaltung des Stückes Widerhall fand. Darüber hinaus fügte Schönberg in die Partitur auch detaillierte Anweisungen zur Regie, insbesondere zur Lichtgestaltung ein. Bühnenhandlung, Musik und Beleuchtung werden dabei zu gleichberechtigten Phänomenen, die auf ein integrales Konzept verweisen.

Arnold Schönbergs Theaterprojekt konnte nicht nur durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs keine nachhaltige Wirkung erlangen. Die Institutionen des Theaterbetriebs, die von einer Trennung von Komponist und Interpret ausgingen, erwiesen sich für derart integrale künstlerische Unternehmungen als ungeeignet. Trotz vereinzelter Versuche in dieser Richtung, für die vor allem Darius Milhauds Film und Bühnenaktion verbindende Oper Le livre de Christophe Colomb (1929) steht, fanden diese künstlerischen Konzepte keine direkte Fortsetzung im zeitgenössischen Komponieren. Im nahezu zeitgleich entstehenden Regietheater, für das die urheberrechtliche Freigabe von Richard Wagners Parsifal 1913 eine Art Startschuss bedeutete, erreichte zwar die szenische Gestaltung den Rang einer eigenständigen künstlerischen Elements, doch musikalische Komposition und szenische Umsetzung blieben getrennte Bereiche in einem auf Arbeitsteilung angelegten Theaterbetrieb. Ein eigenständiger Neubeginn fand erst in den Kompositionen der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg statt.

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