Jede Form des Musiktheaters beruht auf einer Verbindung von musikalischer Klanggestaltung und einem visuell dargestellten Geschehen auf der Bühne. Grundsätzlich kann Musiktheater nur als kollektives Werk mehrerer Künstler entstehen. Bereits in der Zusammenarbeit von Komponist und Librettist unterscheidet sich das Musiktheater von anderen musikalischen Gattungen, denn der Text des Musiktheaters kann nicht einfach aus anderen literarischen Vorlagen übernommen werden. Das Libretto wird entweder vollständig neu entworfen oder ist eine Bearbeitung oder Adaption einer literarischen Vorlage.
Während die Verbindung von Musik und Literatur als gesungener Text eine Konstante darstellt, die sich in der Regel sehr präzise in einer Partitur notieren lässt, unterliegt die Verbindung von Ton und Bild keiner allgemeingültigen Normierung bzw. Notationsmethode. Die Beziehung von Ton und Bild im Musiktheater wird daher in den meisten Fällen erst in der jeweiligen Aufführung realisiert. In der Moderne entwickeln sich integrale Konzepte des Musiktheaters, die darauf zielen, nicht nur die musikalischen Elemente, sondern auch die visuelle Darstellung in einem künstlerischen Gesamtentwurf zu bestimmen, wie Wassily Kandinskys Der Gelbe Klang oder Arnold Schönbergs Die Glückliche Hand zeigen.
Mit den Nachkriegsavantgarden mündeten diese Bestrebungen in ein gattungs- und medienübergreifendes experimentelles Musiktheater, bei dem Aspekte der Unbestimmtheit, Improvisation und Interaktion bis in die Gegenwart eine verstärkte Rolle spielen.
Ein theoretisches Konzept zur Verbindung und Integration der unterschiedlichen Kunstformen im Musiktheater wurde erstmals von Richard Wagner formuliert. In seiner im Schweizer Exil verfassten und 1850 veröffentlichten Schrift Das Kunstwerk der Zukunft deutet Wagner das Nebeneinander der selbstständigen Künste als Symptom eines kulturellen und politischen Niedergangs. Nur der Künstler sei dazu berufen, diese moderne Arbeitsteilung zu überwinden. Wagners ästhetisches Programm mündet schließlich in der Idee einer freien künstlerischen Genossenschaft[1], welche die Grundbedingung des Kunstwerks der Zukunft ist. Somit formuliert Richard Wagner hier das revolutionäre Programm einer sozialen Utopie des Theaters, von dem er sich als gescheiterter Revolutionär aber rasch wieder verabschieden sollte. Als reales Vorbild diente Wagner die Aufführungspraxis der Grand opéra in Paris. Hier wurden die verschiedenen Darstellungsmittel des Musiktheaters gleichberechtigt zusammengeführt. Fasziniert war Wagner zudem von der normativen Verbindung von Komposition und Bühnenbild, die in der Grand opéra angestrebt wurde: Werke, die in Paris aufgeführt wurden, sollten nach Möglichkeit mit einem identischen Bühnenbild an anderen Theatern nachgespielt werden. Die Idee solcher Musteraufführungen war ein Antrieb zur Gründung der Bayreuther Festspiele. Für seine eigenen Opernkompositionen hatte der Entwurf des Gesamtkunstwerks, der erst im modernen Regietheater Bedeutung gewann, jedoch keine tragende Rolle.
Der Einfluss der Ideen Richard Wagners auf die Avantgarde der klassischen Moderne war beträchtlich. Bildende Künstler wie Hubert von Herkomer, Wassily Kandinsky oder Oskar Schlemmer sahen sich bei ihren Arbeiten für die Bühne in seiner Nachfolge. Der Pionier des modernen Regie- und Bildertheaters, der Schweizer Adolphe Appia, hat seine eigenen theoretischen Arbeiten als Wagner-Deutungen verstanden. In seiner 1899 veröffentlichten Schrift Die Musik und die Inszenierung plädierte Appia für ein aus der Musik heraus gestaltetes Bühnenbild.[2] Bei der Dekoration der Bühne gehe es nicht um einen mehr oder minder hohen Grad von Realismus[3], sondern die Bühnenformen haben deshalb ästhetischen Wert, weil sie Bestandteil der von der Musik geforderten Gesamtheit sind. Appias eigene, nicht realisierte Bühnenbildentwürfe aus den Jahren 1890 bis 1892 für Das Rheingold und Die Walküre zeigen, dass seine Strategie zur bildlichen Umsetzung der Musik im neuartigen Einsatz der Bühnenbeleuchtung lag. Dabei hatte Appia neben den neuen Beleuchtungstechniken erstmals auch dreidimensionale Bühnenbilder vorgesehen. Die üblicherweise dominierenden Darsteller wurden bei Appia im Gesamteindruck des Bühnenbildes aufgelöst; die Figuren erschienen stilisiert in nur durch Licht und Architektur atmosphärisch gestalteten Räumen. Die Konzeption der Räume sollte dabei die Verbindung zwischen musikalischer Komposition und Bühnengeschehen herstellen. Es war daher nur konsequent, dass Appia in seinen 1908 bis 1912 für das Theater in Hellerau geschaffenen Bildstudien Rhythmische Räume das Bühnengeschehen schließlich auf reine Architektur und Lichteffekte reduzieren wollte.
War die Problemstellung dieser Konzepte das Verhältnis zwischen der Partitur des Komponisten und der Darstellung auf der Bühne, führte die rasche Entwicklung des Regietheaters seit dem Ende des Ersten Weltkriegs dazu, dass auch für die Oper die gesamte Bühnentechnik zu einem frei verfügbaren Deutungsmittel der Regie und die Inszenierung somit zu einer eigenen, von der Komposition unabhängigen, künstlerischen Leistung wurde. Einen letzten Versuch zu einer theoretischen Neukonzeption zur normativen Verknüpfung von Musik und Szene unternahm 1931 Paul Bekker in seiner Schrift Das Operntheater[4] mit der Einführung des Begriffs Spielorganik. Wie aus der Analyse der Partitur eine entsprechende Spielgesetzlichkeit eines Musiktheaterwerkes abgeleitet werden könne, blieb dennoch ungeklärt.
Die entscheidenden Anstöße zur Entwicklung eines musikalischen Bildertheaters gingen schließlich nicht von Komponisten oder Theaterpraktikern aus. Ästhetisch wirksam wurden zunächst die Projekte und Experimente von bildenden Künstlern. Pionier war der aus Oberbayern stammende Hubert von Herkomer, der seit seinem zweiten Lebensjahr in den USA und in England lebte. Als sozialkritischer Grafiker sowie als Porträtmaler bedeutender Künstler und Gelehrter, wie Richard Wagner, John Ruskin und Alfred Tennyson, war von Herkomer zu beträchtlichem Reichtum gekommen. 1883 gründete er in dem Dorf Bushey bei London eine private Kunstschule, die er bis 1904 betrieb. Hier entstand im Laufe der Zeit eine Künstlerkolonie, die sich zu einem Zentrum der spät-viktorianischen Avantgarde entwickelte. In seinem Privathaus Lululand, benannt nach seiner zweiten Frau Lulu, richtete sich von Herkomer ein privates Theater ein, wobei er großen Wert auf eine moderne elektrische Beleuchtungstechnik legte. Als Darsteller auf dieser Bühne agierten Studenten der Kunstschule und von Herkomer selbst. Für die musikalische Gestaltung wurden prominente Musiker verpflichtet, u. a. der bekannte Wagner-Dirigent Hans Richter. Zur Aufführung kamen Bühnenwerke wie An Idyl (1883–1889), die von Herkomer als Erweiterung seiner bildnerischen Arbeit konzipierte und die in der Tradition der tableaux vivants oder living pictures standen. Von Herkomer sah darin eine Form des picture-making, in der das Musiktheater zum Instrument eines nahezu kinematografischen Bildbegriffs wird. In der Konsequenz führte ihn dies zunächst zu einer Beschäftigung mit prä-kinematografischen Techniken, in deren Kontext von Herkomer Eadweard Muybridge nach Bushey einlud, und schließlich zu einer Auseinandersetzung mit dem neuen Medium Film, in deren Folge er sein Theater 1913 in ein Filmstudio umwandelte.[5] Konzeptionelle Verbindungen bestanden auch zu der Entwicklung der Colour-Organ von Alexander Wallace Rimington, der anstrebte, Kompositionen sowohl visuell wie auch akustisch darzustellen, indem er Farbwerte und Töne in einer direkten Zuordnung miteinander verband.[6]
Für Wassily Kandinsky wurde die Beschäftigung mit der Regie-Arbeit Max Reinhardts, die er während eines Berlin-Aufenthaltes zwischen September 1907 und April 1908 kennenlernte, zum entscheidenden Einfluss für die Entwicklung seiner Theaterkonzepte. Ausschlaggebend war dabei vor allem die Mitarbeit bildender Künstler im Theater Reinhardts. Kandinsky ging von einer unmittelbaren Korrespondenz von Malerei, Theater und Musik aus. Bereits in den Skizzen zu seiner ersten Bühnenkomposition Schwarz und Weiß (1908/1909) verknüpfte er Bühnenhandlung mit detaillierter farblicher Gestaltung. Im Unterschied zu den an Analogiemodellen orientierten künstlerischen Positionen strebte Kandinsky jedoch keine direkte Korrespondenz von Bild und Ton an, vielmehr suchte der die Verbindung der verschiedenen Kunstformen durch gemeinsame Strukturprinzipien wie Bewegung und Rhythmus. Folgerichtig sind in Kandinskys Bühnenkomposition Der gelbe Klang (1909–1912, Uraufführung 1956) die szenischen Abläufe und die Farbgebung miteinander verbunden. Dokumentiert ist Der gelbe Klang als schriftlicher Text, das als endgültig fixiertes Regiebuch für sämtliche Aufführungen des Bühnenstücks dient. Nur die Gestaltung der Musik bleibt undefiniert.
Der Komponist Arnold Schönberg versuchte, mit seiner Oper Die glückliche Hand (1910– 1913) an Kandinskys Theaterkonzeption anzuschließen. In einem Brief vom 19. August 1912 schrieb Schönberg an Kandinsky: Der ›gelbe Klang‹ gefällt mir außerordentlich. Es ist ja ganz dasselbe, was ich in meiner ›Glücklichen Hand‹ angestrebt habe[7]. Während der Entstehungszeit stand Schönberg aber nicht nur in engem Kontakt mit Wassily Kandinsky und Oskar Kokoschka, sondern widmete sich selbst verstärkt der Malerei, die in der visuellen Ausgestaltung des Stückes Widerhall fand. Darüber hinaus fügte Schönberg in die Partitur auch detaillierte Anweisungen zur Regie, insbesondere zur Lichtgestaltung ein. Bühnenhandlung, Musik und Beleuchtung werden dabei zu gleichberechtigten Phänomenen, die auf ein integrales Konzept verweisen.
Arnold Schönbergs Theaterprojekt konnte nicht nur durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs keine nachhaltige Wirkung erlangen. Die Institutionen des Theaterbetriebs, die von einer Trennung von Komponist und Interpret ausgingen, erwiesen sich für derart integrale künstlerische Unternehmungen als ungeeignet. Trotz vereinzelter Versuche in dieser Richtung, für die vor allem Darius Milhauds Film und Bühnenaktion verbindende Oper Le livre de Christophe Colomb (1929) steht, fanden diese künstlerischen Konzepte keine direkte Fortsetzung im zeitgenössischen Komponieren. Im nahezu zeitgleich entstehenden Regietheater, für das die urheberrechtliche Freigabe von Richard Wagners Parsifal 1913 eine Art Startschuss bedeutete, erreichte zwar die szenische Gestaltung den Rang einer eigenständigen künstlerischen Elements, doch musikalische Komposition und szenische Umsetzung blieben getrennte Bereiche in einem auf Arbeitsteilung angelegten Theaterbetrieb. Ein eigenständiger Neubeginn fand erst in den Kompositionen der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg statt.
Seit Mitte der 1960er Jahre hat John Cage in einer Serie von kollektiven Kompositionen neue Formen des Musiktheaters entworfen, in denen erstmals die Verbindung von Musik, Bühnenaktion und Bühnenausstattung in medial-interaktiven Konstellationen dargestellt wurde. Den ersten Schritt in diese Richtung machte dabei David Tudor in Zusammenarbeit mit Lowell Cross mit dem Solostück Bandoneon! (a combine), das 1965 während der 9 Evenings im Rahmen der Second Armory Show uraufgeführt wurde. Dafür entwickelte Lowell Cross eine Apparatur, welche die Klänge von David Tudors live-elektronisch manipuliertem Bandoneon-Spiel zur Steuerung von Bildern zweier Fernsehmonitore umwandelte. Hier wurde erstmals der Versuch unternommen, in einer szenischen Aufführung Bildgestaltung in eine direkte Verbindung zur Musik zu bringen.
In John Cages Variations V für je sechs Tonbandgeräte, Kurzwellenempfänger, Oszillatoren und Lautsprecher sowie Objekte, Kontaktmikrofone, andere elektronische Geräte und Tänzer aus dem Jahr 1965 wird das Verhältnis von Musik und Bühne in völlig neuartiger Weise interpretiert. Es sind hier einzig die Tänzer auf der Bühne, die in diesem Werk die Instrumenten-Funktion übernehmen und alle musikalischen Ereignisse durch ihre Bewegungen auslösen. Robert Moog und Cecil Coker entwarfen hierfür zwei Steuerungssysteme: eines mit zehn Fotozellen, das durch die Lichtunterbrechungen der Tänzer aktiviert wurde, ein zweites mit elektromagnetischen Feldantennen, das auf den Abstand der Tänzer zueinander und die Position auf der Bühne reagierte. Damit wurde das Orchester aus den elektrischen Klangerzeugern angesteuert, das die von Cage komponierten Klangmaterialien in Abhängigkeit von der Bühnenaktion wiedergab. Ein weiterer Kontrapunkt zu dieser Konstellation war das Bühnenbild aus Lichtprojektionen, Diaprojektoren und Monitoren, unter Verwendung von Material Nam June Paiks, das gleichfalls über die elektronischen Bühnensysteme gesteuert wurde.[8] Cage entwickelte diese Medienkomposition als eine Serie von Aufführungen für die Merce Cunningham Dance Company; dokumentiert ist dieses Werk daher nur durch eine nachträglich erstellte Handlungspartitur Remarks re an Audio-Visual Performance und durch die Fernsehproduktion des an diesen Aufführungen beteiligten Komponisten Gordon Mumma[9].
Das Grundmodell von Variations V hat John Cage in mehreren seiner interaktiven Medienkompositionen weitergeführt, so in Reunion (mit David Behrman, Lowell Cross, Gordon Mumma und David Tudor).
Hier wird eine Vielheit elektronischer Musiken durch die Figurenbewegungen während eines Schachspiels auf einem elektronisch präparierten Brett gesteuert. Bei der Uraufführung am 5. März 1968 in Toronto bestand die Bühnenaktion aus dem Schachspiel von John Cage gegen Marcel Duchamp, während Teeny Duchamp aus kurzer Entfernung zusah.[10] Schlusspunkt dieser offenen Serie bildete HPSCHD (d.h. Harpsichord) zusammen mit Lejaren A. Hiller, komponiert von 1967 bis 1969 für ein bis sieben elektrisch verstärkte Cembali und ein bis 51 Tonbänder (insgesamt zwei bis 58 Lautsprecher), ergänzt um Projektionen von Dias und/oder Filmen nach Belieben.
Nachdem Roger Reynolds zunächst erste serielle Kompositionen vorgelegt hatte, begann er 1961 für das ONCE-Festival in Ann Arbor/Michigan mit einer Oper nach dem bekannten Gedicht The Emperor of Ice Cream von Wallace Stevens. Da es in der Vorlage keinerlei Vorgaben für eine sichtbare Bühnenhandlung gab, komponierte Reynolds die Bühnenpositionen und Bewegungen der acht Sänger als abstrakte Raumbewegungen, die ein Parameter in seiner Partitur bildeten. Damit wurde erstmals eine Raumgestaltung durch bloße musikalische Mittel erreicht; die Bühne war nicht mehr der vorgegebene Ort der Inszenierung, sondern konstituierte sich erst durch die Aufführung der Musik. Dieses Modell eines akustischen Bühnenschauspiels bedeutete die Abkehr von jeder herkömmlichen Form des visuellen Theaters. Dieses Konzept hat Reynolds zunächst in seinem Chorwerk Blind Men (1966) nach Herman Melville weitergeführt, um schließlich in der Voicespace-Serie für Stimme und Tonband (seit 1975) die Bühne als bloßes inneres Ereignis zur Darstellung zu bringen. Ein vergleichbares Denkmodell bestimmte auch Alvin Luciers I Am Sitting in a Room für Stimme und Tonband (1970).[11] Ziel des Stückes ist es, die musikalischen Qualitäten eines Raumes akustisch zur Entfaltung zu bringen, indem ein vorgegebener Sprechtext immer wieder auf Tonband aufgezeichnet und abgespielt wird, so lange bis die Resonanzschwingungen des Raumes sich immer mehr überlagern und die Sprache schließlich in Raumklang aufgelöst wird. Diese kompositorischen Mittel wurden in immer neuen Varianten und Ableitungen in verschiedenen Kontexten angewendet; so in Salvatore Sciarrinos Lohengrin, einer azione invisibile per voce, strumenti e coro (1984), das die Bühnenrealität zur Traumfigur macht, in Luigi Nonos unsichtbarem dramma in musica Prometeo (1981–1985) und in Adriana Hölszkys Oper ohne Text Tragoedia (1997).
Auf der Basis der Komposition Kontakte (1958–1960) entstand 1961 Karlheinz Stockhausens musikalisches Theater Originale, das die erste Form eines Fluxustheaters in Europa darstellt.[12] Originale besteht aus 18 Szenen, die in sieben Strukturen angeordnet sind und in variabler Reihenfolge oder auch simultan aufzuführen sind. Der Zeitverlauf des Musiktheaterwerks ist festgelegt durch den Rückgriff auf Kontakte, dessen Aufführung im Zentrum von Originale steht, wobei die Interpreten der Uraufführung von Kontakte – David Tudor (Klavier), Christoph Caskel (Schlagzeug) – sich in Originale selbst darstellten. Weitere Rollen in Originale waren mit Nam June Paik als Aktionkünstler oder Hans G. Helms als Schriftsteller besetzt. Damit stellt Karlheinz Stockhausens Originale einen mehrdeutigen Grenzfall des Musiktheaters dar: Es entspricht der Forderung der Fluxus-Kunst nach Konkretheit, es enthält die Spielformen des Happenings, wie sie zuerst von Allan Kaprow realisiert wurden, sowie Elemente des Instrumentalen Theaters, das die Aufführung von Musik zum Gegenstand der Aufführung macht.
Das Instrumentale Theater etablierte sich als eigenständige Theaterform durch die szenischen Kompositionen Mauricio Kagels, dessen entscheidender Antrieb die Auseinandersetzung mit der Musik John Cages war. Sein zentrales Werk Sur scène entstand 1960 als kammermusikalisches Theaterstück in einem Akt für Sprecher, Mimen, Sänger und Instrumentalisten. Die Grundlage des Bühnenwerkes bildet ein Vortrag über zeitgenössische Musik, der die Einsätze für die Aktionen der stummen Mimen sowie der Musiker gibt und gleichzeitig den Inhalt des Vortrages ironisiert. Sur scène ist ein Versuch, Kammermusik aufzuführen und wird dabei zu einem Diskurs über Kammermusik selbst. Eine solche Selbstthematisierung von musikalischer Aufführung als Spiel prägt auch Kagels Match für zwei Cellisten und einen Schlagzeuger (1964). Die Aufführung erhält dabei die Gestalt eines Ballspiels zwischen den beiden Cellisten. Der Schlagzeuger wird zum Schiedsrichter, der vergeblich versucht, die Kontrolle über das Geschehen zu erlangen. Da in der Aufführung eine exakte Wiederholung der Handlung vorgeschrieben ist – das Match wird somit zweimal gespielt –, wird aus dem scheinbar spontanen Spiel der Musiker eine genau choreografierte Inszenierung.
Die interaktiven Formen des Musiktheaters, wie sie durch John Cage entwickelt wurden, bedeuteten nicht nur die Verwendung neuer technischer Mittel in der szenischen Realisierung von Musik, sondern führten auch zu grundsätzlich neuen medialen Verlagerungen der musikalischen Darstellungsmöglichkeiten. Nachdem der Komponist Robert Ashley zunächst sowohl Formen des interaktiven Musiktheaters wie des Instrumentalen Theaters übernommen hatte, entstand mit Music with Roots in the Aether (1975–1976) seine erste Oper für das Fernsehen, die nicht eine bloße Fernsehfassung einer Bühnenhandlung war, sondern die Fernsehtechnik als eigenständiges Medium der musikalischen Komposition erfasste.[13] Music with Roots in the Aether thematisiert das Komponieren von sieben verschiedenen Künstler – David Behrman, Philip Glass, Alvin Lucier, Gordon Mumma, Pauline Oliveros, Roger Reynolds, Terry Riley und Robert Ashley – in einer Art dokumentarischen Gestalt. Dennoch zielt dieses Vorgehen nicht auf bloße Abbildung, vielmehr wird das Schaffen von Musik hier zu einem sichtbaren und unmittelbaren Akt für den Zuschauer. Die zunächst scheinbar entrückte Musik der Avantgarde wird so zu einer theatralischen Handlung selbst, zu der sich das Publikum in Beziehung setzen kann. Dieses Grundmodell fand seine Fortführung zunächst in der für den Sender Channel 4 produzierten Oper Perfect Live (1979–1983) und schließlich in der mehr als 14-stündigen Opern-Tetralogie Now Eleanor’s Idea (1983–1993) mit den Teilen Improvement (Don leaves Linda), Foreign Experiences, eL/Aficionado und dem Titelstück Now Eleanor’s Idea, die Robert Ashley jedoch bislang nur für die Bühne produzieren konnte.
Die Entwicklung digitaler Bildmedien ermöglichte gegenüber der traditionellen Fernseh- und Videotechnik neue, flexible Gestaltungspotenziale. So können nicht nur völlig neue Raum- und Handlungskonzepte realisiert werden, es bietet sich auch die Möglichkeit einer spontanen Interaktion der unterschiedlichen Medien, die bislang durch technische und institutionelle Begrenzungen nicht realisierbar schien. Als ein exemplarisches Werk dieser Entwicklung kann das Video-Oratorium Paradiso (2001) des niederländischen Komponisten Jacob ter Veldhuis gelten, dem es gelingt, die traditionelle Gattung der Oratorienkomposition mit den Ausdrucksformen der VJ-Kultur zu verbinden.
[1] Richard Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig 1887, S. 166.
[2] Adolphe Appia, Die Musik und die Inscenierung, München 1899.
[3] Appia, Die Musik und die Inscenierung, 1899, S. 97.
[4] Paul Bekker, Das Operntheater, Leipzig 1931.
[5] Vgl. Uta Grund, Zwischen den Künsten. Edward Gordon Craig und das Bildertheater um 1900, Berlin 2002, S. 104.
[6] Alexander Wallace Rimington, Colour-Music, (mit Vorwort von Hubert von Herkomer), London 1912.
[7] Brief von Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky, 19.8.1912, auszugsweise in: Ullrich Scheideler (Hg.), Arnold Schönberg: Sämtliche Werke: Reihe B, Bd. 6, Abt. 3 Bühnenwerke I; 3, Mainz 2005, S. 268.
[8] Vgl. Michael Nyman, Experimental Music. Cage and Beyond, Cambridge–New York–Melbourne 1999, S. 96–99; Frieder Reininghaus, Katja Schneider (Hg.), Experimentelles Musik- und Tanztheater, (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, 12 Bde., Bd. 7), Laaber 2004, S. 360–361.
[9] John Cage, Variations V, NDR 1966.
[10] Abbildung in Nyman, Experimental Music, 1999, S. 99.
[11] Alvin Lucier, Reflexionen: Interviews, Notationen, Texte, Köln 1995, S. 323–325.
[12] Vgl. Reininghaus, Schneider (Hg.), Experimentelles Musik- und Tanztheater, 2004, S. 161–165.
[13] Als Textfassung: Robert Ashley, Music with Roots in the Aether. Interviews with and Essays about Seven American Composers, MusikTexte 007, Köln 2000.
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