Ton-Bild-Relationen in der Literatur
2 Text im Bild / Bild im Text
Von der griechischen Antike bis zum Barock gehörte die Identität der äußeren Gestalt des Textes und dem in ihm beschriebenen Gegenstand, insbesondere im Figuren- oder Bildgedicht, zu den selbstverständlich geübten Techniken religiöser wie weltlicher Gelegenheitslyrik. Kreuze und Kelche, aber auch Kronen, Herzen oder Pyramiden zählen zum Arsenal einer ideogrammatischen Ästhetik, die sich der Abbildbarkeit der Objekte in Texten sicher sein konnte. Sie wird in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy (1759) durch leere oder marmorierte Seiten, eingefügte Krakeleien oder imaginäre Schönheitslinien ansatzweise in Frage gestellt.[11]
Solche aufgelockerten Textformen bleiben aber bis weit ins 19. Jahrhundert hinein marginal. Stellt sich die romantische Literatur insbesondere der Herausforderung einer musikalischen Schreibweise (s. o.), so setzt mit Mallarmés zehn Doppelseiten umfassendem, posthum veröffentlichtem Langgedicht Un coup de dés (Erstpublikation 1897) eine völlige Neuorientierung des Verhältnisses von Text und Bild, partiell auch in Verbindung mit Musik, ein.[12] Der Text versteht sich nun als komplexes, vieldimensionales Rezeptionsangebot; selbst zentral erscheinende Stichwörter wie Meister oder Schiff(-bruch) bieten keine semantische Sicherheit mehr.
Surrealismus, Kubismus und Dadaismus greifen diesen Impuls, z. T. auch mit parodistischen oder explizit politischen Tendenzen, auf. Guillaume Apollinaires Calligrammes erproben seit 1914 eine Darstellungsform, in der Buchstaben den Umriss des beschriebenen Objekts zwar nachzeichnen, ihn aber ihrerseits infrage stellen.[13] Seitdem begleitet und kritisiert das Figurengedicht, von Ernst Jandl oder Gerhard Rühm auch parallel zum Lautgedicht praktiziert, hochkulturelle Ansprüche und Denkformen. Darin liegt auch seine enorme Anschlussfähigkeit für Werbung und Alltagskommunikation sowie für (Schul-)Lesebuch und creative writing.[14]
In umgekehrter Richtung haben sich literarische Bezugnahmen auf Gemälde-, Theater- oder Filmszenen seit dem Fin de Siècle vermehrt. Für Heinrich und Thomas Mann und ihre Generation konnten sie wahlweise zu Zeugen für die, christlich gedeutete, Scheinhaftigkeit der Welt, ihren Charakter als Schmierenkomödie oder später, unter dem Einfluss des Films, für ihre Inszenierbarkeit gelten. Unbestritten aber blieb, dass das jeweils nichtliterarische Medium ein Kunstzitat[15], eine Illustration, nicht aber eine intermediale Provokation des eigentlichen Darstellungsimpulses sein sollte.[16] Anders verhält es sich bei meist lyrischen Evokationen von Kunstobjekten wie dem Rilkeschen Dinggedicht, das durch das Beschriebene hindurch auf eine Substanz zielt, die nicht anders als poetisch erfahrbar sein soll. In der so erreichten Epiphanie fallen rezeptionsästhetische Aspekte mit (kunst-)religiösen zusammen: Trotz gelegentlich äußerst detailgenauer Schilderung sind die Realobjekte nur Durchgangsstationen für einen übergeordneten Gehalt. Auf den ersten Blick in barocker Tradition stehend, zeichnet etwa Das Füllhorn von 1926 Schwung und Form des gebendsten Gefäßes im Akt der Wahrnehmung des Betrachters nach.[17] Das poetische Stilleben kommt mit seiner Aufmerksamkeit für Alltägliches und Unscheinbares auch der Tendenz in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik nahe, sich der Materialität des eigenen Textes zu vergewissern.[18]