Ton-Bild-Relationen in der Literatur

3 Noten und Notationen

Bleibt das Phänomen des Abdrucks von Noten in genuin literarischen Texten auch auf wenige Fälle bei Arthur Schnitzler, Hans Henny Jahnn oder Ingeborg Bachmann beschränkt, so demonstriert es doch mit besonderer Deutlichkeit Probleme des Medienwechsels und der ästhetischen Selbstverständigung in, ihrerseits schon extrem komplexen, Artefakten. Schnitzler baut in die Erzählung Fräulein Else 1926 Notenzitate aus Robert Schumanns Zyklus Carnaval, op. 9 von 1834/1835 ein und steigert so seine Dramaturgie des Ver- und Enthüllens, von Konvention und Lebenslüge in der fiktiven österreichischen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts. Die Sujets Karneval und Maskenspiel, Geheimnis und Verstellung erhalten durch Nebenbedeutungen zusätzliche Dimensionen, etwa die von ASCH – einmal als Chiffre für die in Schumanns Namen enthaltenden Notennamen S, C, H und A und gleichzeitig für den Wohnort seiner zeitweiligen böhmischen Geliebten Ernestine von Fricken. So verweisen sie auf einen geheimen Liebescode.

Hans Henny Jahnn nutzt in seinem Monumentalwerk Fluss ohne Ufer (ab 1949) Notenzitate als Bilder für das Sich-Einschreiben des Protagonisten in die Tradition der alten Meister.

Ingeborg Bachmanns Roman Malina von 1971 fordert den Leser nicht nur mit der Dreierkonstellation der Protagonisten Malina, Ivan und Ich heraus; die titelgebende Figur ist entgegen allem, an lateinisch-romanischen Sprachen geschulten, Anschein männlich; ihr Name bedeutet in zahlreichen slawischen Sprachen Himbeere. Diesem Prinzip einer zusammengesetzten Struktur, in der kein Teil allein stehen, nur alle gemeinsam ein Ganzes ergeben soll(t)en, folgen auch die vielfältigen Erwähnungen von Musik und insbesondere die Notenzitate im Text. Kurz vor dem Ende des überaus komplexen Romans angesiedelt, führen sie auch optisch eine assoziative Form der Semiose vor. Erst auf den allerletzten Seiten in erkennbarer Weise wiedergegeben, illustrieren die Notenzitate grafisch, was romantische Musiktexte unendlich lang sprachlich beschworen: die Annäherung an ein fremdes, synthetisierendes Medium, das als Text nicht einholbar, allenfalls zitierbar ist. Mit den abgenutzten Musikmythen Wiens, insbesondere mit Mozart und Beethoven, und den dauerhaft präsenten Geräuschkulissen aus Medienindustrie und Hochkultur schafft Bachmann einen musikalischen Desillusionsroman, an dessen Ende nur mehr stehen kann: Es war Mord.[19]

In den Bild-/Wort-/Musik-Kunstwerken des 20. Jahrhunderts wird der kulturkonservative Impuls Jahnns ein Einzelfall bleiben. Dagegen eröffnet das unendliche Material an Noten und Musikmotiven in der bildenden Kunst wie in Notationsweisen Neuer Musik ein weiteres Feld intermedialer Reflexion. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich eine Autonomie des ästhetischen Zeichens ab, die sich keinem anderen Darstellungsimpuls mehr verpflichtet fühlt als dem ihrer jeweiligen Materialität.[20] Und selbst die Literaturwissenschaft als die am meisten inhaltsgebundene Sparte der Kunstbetrachtung widmet sich inzwischen der Typografie – nicht nur als Begleiterscheinung und Dekor, etwa prototypisch im Blick auf den Stefan-George-Kreis –, sondern als Medium mit eigenständiger Bedeutung.[21] So findet sich die unendliche Suche der Literatur nach ihrem Anderen endlich auf ihrem ureigensten Feld wieder – der Schrift.

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