Künstlermusiker & Musikerkünstler

4 Vielseitige Künstlerpersönlichkeiten

Ab Mitte der 1970er Jahre wurden Kunstakademien zum Ausgangspunkt interdisziplinären bzw. multidisziplinären Arbeitens. Sie waren für Studenten weniger das Wunschziel als das kleinere Übel innerhalb der Hochschullandschaft und boten genügend Freiraum, um eigene Ideen zu entwickeln. Musikrichtungen wie Punk und New Wave motivierten zahlreiche Kunststudenten, selbst Musik zu machen. Dafür waren die Kunstschulen nicht nur ein idealer Auftrittsort, sondern das Publikum war hier für ungewöhnliche musikalische Ideen, verrückte Outfits und spektakuläre Performances aufgeschlossener als anderswo. Die Bedeutung, die der Art School als Brutstätte relevanter Popmusik um 1980 zukam, zeigt die illustre Reihe von ehemaligen Kunststudenten wie Tina Weymouth (Talking Heads), Glen Matlock (Sex Pistols), Joe Strummer (Clash), Marc Almond (Soft Cell) und PJ Harvey, die allesamt mit ihrer Musik berühmt wurden.[11]

Eine besondere Rolle in Großbritannien kam dabei Malcolm McLaren zu, der an verschiedenen Kunsthochschulen wie dem Goldsmith College in London studierte, bevor er als Begründer der Punk-Ästhetik in die Annalen der Popgeschichte einging.

Auf Provokation und Tabubruch zielend, machte er nicht nur den Begriff Punk zusammen mit der von ihm gemanagten Band Sex Pistols in England populär, sondern setzte, in Anlehnung an Strategien des Situationismus und in enger Zusammenarbeit mit Vivienne Westwood (mit der er eine Boutique, zunächst als Let it rock, ab 1974 unter dem Namen Sex, führte) und dem Künstler Jamie Reid, Punk als Stil der Hybridität und Verfremdung durch. Seine Ambitionen dabei fasste er rückblickend wie folgt zusammen: Es ging darum, aus nicht vorhandenem Talent und Unprofessionalität ein schillerndes Abenteuer, etwas Neues zu schaffen. Die meisten meiner Ideen und Kunst-Produkte sind einfach das Ergebnis meiner Lebensanschauung. Und sollten Unruhe stiften.[12]

Hinzu kam, dass bei den angesprochenen Musikstilen die Energie des akustischen Ausdrucks und die Authentizität der Darbietung höher im Kurs standen als musikalische Virtuosität und Perfektionismus. Eine professionelle Ausbildung musste nicht nachgewiesen werden, im Gegenteil: Anfang der 1980er Jahre stand ein bewusster Dilettantismus sowohl in der Popmusik als auch in der bildenden Kunst hoch im Kurs.

Für eine ganze Reihe der Künstlermusiker/Musikerkünstler war das Prinzip, ein gutes Punkstück brauche nur drei Akkorde, gleichermaßen gültig wie die Do-it-yourself-Attitüde. In diesem Zusammenhang entstanden auch die interdisziplinär arbeitenden Genialen Dilletanten, deren Aktivitäten sich vor allem in einem Festival genialer Dilletanten am 4. September 1981 im Tempodrom in Berlin (u. a. mit Einstürzende Neubauten, Frieder Butzmann, Christiane F. etc.) und einem von Wolfgang Müller 1982 herausgegebenen Buch manifestierten. Im einleitenden Text erklärt Müller, dass er als Genialität die intensive Intensität bei der Auseinandersetzung mit dem Stoff[13] versteht. Musikalisch gesehen bedeutete dies in jenen Tagen vor allem: Lärm und Krach kann jeder machen, dazu braucht man keine Digital-Aufnahmetechnik oder ein 36 Spur Studio mit tausend Raffinessen.[14] Die von Wolfgang Müller gegründete Gruppe Die Tödliche Doris war entsprechend vielseitig, brachte Schallplatten heraus, produzierte Kunstwerke, führte Performances auf oder stellte Videos her, wie das legendäre Naturkatastrophenballett (DE 1983).

Eine solche Freiheit im Umgang mit den Disziplinen ist kennzeichnend für die 1980er Jahre, in denen sich zahlreiche Künstler nicht auf eine Ausdrucksform festlegten, sondern als Filmemacher, Maler, Performancekünstler, Architekten, Musiker, Autoren, Kritiker oder Theoretiker parallel und gleichgewichtig in verschiedenen Feldern agierten, wobei Warhol einen wichtigen Bezugspunkt darstellte.

Hier ging es nicht darum, verschiedene Künste miteinander zu verbinden, sondern die für eine bestimmte Idee geeignete Ausdrucksform zu finden, Vorstellungen in einem anderen Feld zu überprüfen oder einfach den eigenen Wirkungsradius zu erweitern.

So machte Laurie Anderson gleichermaßen Karriere als Künstlerin (als Performancekünstlerin nahm sie an der documenta 7 1982 und documenta 8 1987 teil) wie als Musikerin (mit O Superman erreichte sie 1981 Platz 2 der britischen Charts). Sie verbindet in ihrem Oeuvre Fluxus-Tradition und New Wave. Ihr Interesse an Multimedialität manifestierte sich in opulenten Aufführungen wie in der 8-Stunden-Oper United States I-IV (1983). Talking Head David Byrne wiederum war auch als Regisseur, Fotograf und bildender Künstler erfolgreich aktiv.

Kim Gordon von Sonic Youth betätigte sich über Ihre musikalische Karriere und die gelegentliche Wirkung als Musikproduzentin hinaus weiterhin als bildende Künstlerin sowie Kuratorin und arbeitete Anfang der 1980er Jahre als Kunstkritikerin für Artforum. Ihre musikalische Karriere begann, als sie von Dan Graham eingeladen wurde, für eine Performance in einer Girlband mitzuwirken. Graham, der sich selbst nie auf eine Profession festlegte, sondern zugleich als bildender Künstler, Kritiker, Kulturtheoretiker, Fotograf, Architekt und Galerist arbeitete, war in dieser Hinsicht auch prägend für das multiple künstlerische Selbstverständnis Kim Gordons und ihrer Zeitgenossen.[15]

Einen entsprechenden Nährboden für solche Entwicklungen boten subkulturelle Szenen wie die Lower East Side in New York, in deren Galerien und Clubs wie dem CBGB’s sich Künstler und Musiker gemeinsam bewegten und dadurch zahlreiche Kollaborationen initiierten. Auch dafür steht Sonic Youth, für denen musikalischen Stil häufig der Begriff Art Punk verwendet wird, der ihre Synthese von experimentellen Klängen und Punkrock auf den Punkt bringt.[16] Seit ihrer Gründung arbeiten sie neben ihren eigenen vielfältigen Aktivitäten eng mit Designern, Filmemachern, bildenden Künstlern und anderen Musikern, darunter Mike Kelley, Richard Kern, Raymond Pettibon und Richard Prince zusammen.

Während es all diesen Künstlern nicht darum ging, die eine Kunstform gegen die andere einzutauschen, konnten rein pragmatische Gründe einen solchen Wechsel herbeiführen. So bewegte in der DDR ein Ausstellungsverbot 1981 die Malerin und Filmemacherin Cornelia Schleime dazu, sich der Punkbewegung anzuschließen und die Band zu gründen, bevor sie nach ihrer Ausreise in die BRD einige Jahre später zur Malerei zurückkehrte.[17]

Weitere britische Kunststudenten, die eine musikalische Laufbahn einschlugen waren u. a. Adam Ant (Adam and the Ants), Viv Albertine (Slits), Graham Lewis und Rob Gotobed (beide Wire), Lora Logic (X-Ray Spex), Mike Barson (Madness), John Foxx (Ultravox) und Jo Callis (Human League). Vgl. Simon Frith, Howard Home, Art into Pop, London 1987, S. 125f. In den USA studierten an Kunsthochschulen unter anderem Patti Smith, James Chance, Chris Stein (Blondie) und Alan Vega (Suicide). Auch im deutsprachigen Raum gab es zahlreiche Kunstakademie-Absolventen, die sich der Musik zuwandten. Dazu zählen beispielsweise Albert Oehlen, Marcus Oehlen (Mittagspause), Walter Dahn (Die Hornissen), Salome und Luciano Castelli (Geile Tiere), Christian Ludwig aka Chrislo Haas (Deutsch-Amerikanische Freundschaft [DAF]), Claudia Schifferle (Kleenex; später Liliput) und Franz Pomassl.  
Roger Waltz, Ein Interview mit Malcolm McLaren, Interview, 1998, http://on1.zkm.de/zkm/stories/storyReader$1165. McLaren hatte trotz seiner ausgiebigen kulturaktivistischen Praxis seine künstlerischen Ambitionen nie ganz aufgegeben. So trat er nach der Auflösung der Sex Pistols zwar als Produzent von Adam Ant, Bow Wow Wow oder Boy George in Erscheinung, veröffentlichte seit 1980 aber auch zahlreiche eigene Singles und Alben, in denen er sich unter anderem mit Hip-Hop, Oper oder Walzer auseinandersetzte. So präsentierte das ZKM in Karlsruhe im September 2000 McLarens Einzelausstellung Casino of Authenticity and Karaoke und einer Berliner Galerie 2008 die aktuelle Videoarbeit Shallow 1-21.  
Mike Kelley stellte das Art Work für Sonic Youths Album Dirty von 1992 her. Der Künstler war selbst Mitglied der Band Destroy all Monsters. Der frühe US-Punk bildete stets eine Inspirationsquelle für seine künstlerische Produktion. Richard Kern führte 1985 für das Video zu Death Valley 69 Regie, Richard Prince gestaltete das Cover für Sonic Nurse, Raymond Pettibon dasjenige für Goo.  
Es ist anzunehmen, dass sich die Namensgebung auf Paul Klees Gemälde Die Zwitschermaschine (1922) bezieht.  
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Schlagwörter:Entgrenzung, Polysensualität
Zeitrahmen:1970 – 2000
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