Synästhesie, ein neurologisches Phänomen
11 Erklärungsmodelle
Basierend auf den bisherigen Ergebnissen wurden vier verschiedene Modelle zur Erklärung der Synästhesie entwickelt:
- Beim Pruning-Modell geht man davon aus, dass bei Synästhetikern ein größerer Teil von Verbindungen zwischen bestimmten Hirnarealen bestehen bleibt, die im Normalfall eliminiert würden: Während der menschlichen Hirnentwicklung kommt es zu einem starken Auswachsen von Nervenverbindungen, die zunächst weniger differenziert sind. Anschließend folgt eine Ausdünnung (pruning) von Nervenverbindungen, sodass nur die wirklich sinnvollen Nervenverbindungen erhalten bleiben. Es könnte also sein, dass dieser Vorgang bei Synästhetikern eingeschränkter abläuft und so zusätzliche Verbindungen erhalten bleiben. Ist ein Areal aktiv, könnte es das andere also simultan mitaktivieren. Diese Hypothese wird beispielsweise durch Hubbard und Kollegen unterstützt, die bei Graphem-Farb-Synästhetikern während der Präsentation von Buchstaben nicht nur eine Aktivierung des Wort-Form-Areals, sondern auch der benachbarten Farbregion fanden.
- Das disinhibited-feedback-Modell besagt hingegen, dass die Anzahl an Verbindungen im Gehirn unverändert ist, dass es jedoch durch einen Mangel an Hemmung zu einer erhöhten synaptischen Übertragung zwischen Hirnarealen kommt. Grossenbacher und Kollegen postulieren, das dieser Mangel an Hemmung durch eine geringere Aktivität des tempero-parietal-okzipitalen Kortex – einem intermodalen Assoziationsfeld, von dem man annimmt, dass es visuelle, räumliche und akustische Signale integriert – zustande kommt.
- Die re-entrant-theory geht davon aus, dass es bei der Signalverarbeitungskaskade von primären in höhere assoziative Areale eine Rückprojektion in vorgeschaltete Areale gibt, die bei Synästhetikern stärker ausgeprägt ist und eine Aktivierung in diesen Arealen früher Sinnesverarbeitung nach sich zieht.
- Das Hyperbinding-Modell besagt, dass bei Synästhetikern die Hirnareale, welche die Verknüpfung verschiedener Sinnesinformationen zu einer einheitlichen Wahrnehmung leisten, hyperaktiv sind und es dadurch zu einem Mehr an Verknüpfungen kommt. Nach Estermann ist das hierfür kritischste Areal im Parietalkortex zu suchen (Estermann et al. 2006); andere Autoren machen hauptsächlich das limbische System für diesen Vorgang verantwortlich (z.B. Schiltz et al. 1999, Cytowic 1989 / s.o.).
Die Modelle schließen einander nicht unbedingt aus, sodass auch eine Kombination der verschiedenen Theorien denkbar ist. So ist es möglich, dass es über Disinhibition von Feedback-Projektionen zu einem Rückeintritt (Re-entrant) von Aktivität in vorgeschaltete Areale kommen kann oder das Pruning-Modell könnte die Grundlage für Hyperbinding- bzw. Re-entrant-Prozesse sein.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Es ist akzeptiert, dass Synästhesie keine Einbildung der Betroffenen ist, sondern ein reales neurophysiologisches Phänomen, das der Wissenschaft einzigartige Einblicke in die menschliche Wahrnehmung bieten kann.
Personen: M. Estermann, Peter Grossenbacher, Edward M. Hubbard