Audiovisuelle Wahrnehmung
1 Hören vs. Sehen
Unser Wahrnehmungsapparat ist eine Antwort auf das informative Überangebot der Umwelt. Nach Konrad Lorenz ist jedes Sinnesorgan eine Gestalt gewordene Theorie darüber, welche Umweltinformationen einen evolutionären Vorteil versprechen.[1] Jeder Sinn fokussiert einen kleinen Ausschnitt aus dieser schier unendlichen Fülle und öffnet dabei, so könnte man sagen, das Tor zu einer anderen Welt. Die Wahrnehmungswelten, die uns Sehen und Hören eröffnen, zeichnen sich dabei, vereinfacht dargestellt, durch folgende modalspezifischen Besonderheiten aus:
Durch die Wahrnehmung hochfrequenter Lichtstrahlen mit Wellenlängen von 380 bis 680 Nanometern, die sich nahezu geradlinig ausbreiten, vermag das Auge Oberflächenstrukturen extrem detailgenau aufzulösen. Dies ermöglicht uns eine präzise räumliche Orientierung, was etwa beim Erfassen von winzigen Strukturen wie Schriftzeichen evident wird. Der menschliche Hörapparat ist hingegen auf das Verständnis der menschlichen Stimme optimiert. Die diesem Bereich zugehörigen Schallwellen mit Wellenlängen von etwa 20 bis 30 cm beugen sich um Gegenstände kleinerer Größe und sind daher für eine präzise räumliche Wahrnehmung vergleichsweise ungeeignet.
Sehen ist ein gezielter und gerichteter Vorgang, der aktiv und bewusst abläuft. In der Regel werden Sinnesreize vom Auge direkt zur rationalen Verarbeitung an das Großhirn geleitet, was die visuelle Wahrnehmung für die Bewältigung differenzierter Leistungen prädestiniert. Vom Ohr führen einige Nervenbahnen direkt zum Zwischenhirn, das unter anderem für die Steuerung von Emotionen verantwortlich ist – deshalb sind akustische Reize in der Lage, relativ unmittelbar Gefühle und Körperreaktionen (etwa ein Ansteigen der Pulsfrequenz) auszulösen. Zudem ist das Ohr unbeweglich und nicht zu schließen, weshalb man, gewollt oder nicht, alle akustischen Ereignisse der Umgebung registriert, sogar wenn man schläft. Hören ereignet sich oft auch unbewusst und passiv und kann als ganzheitlich und kollektivierend beschrieben werden, sind doch die akustischen Wahrnehmungen für mehrere Personen in einem Raum weitgehend deckungsgleich.
Unsere visuelle Wahrnehmung ist auf die Erfassung statischer Objekte optimiert und kann in der Regel maximal einer einzigen Bewegung folgen, etwa einem vorbeifahrenden Auto. Akustische Phänomene sind dagegen ohne dynamische Veränderungen praktisch undenkbar. Beim Hören können auch mehrere simultane Bewegungen problemlos unterschieden werden, etwa die Geräusche zweier sich voneinander entfernender Autos. Außerdem ist der Gehörsinn in der Aufnahme und Prozessierung von Sinnesreizen grundsätzlich schneller als der Gesichtssinn. Das Ohr ist also tendenziell auf die Wahrnehmung zeitlich verlaufender Prozesse und das Auge auf die detaillierte Auflösung statischer Phänomene spezialisiert, was wohl der gängigen Assoziation von Bildern mit Beständigkeit beziehungsweise der von Tönen mit Flüchtigkeit zugrunde liegt. [2]