Pour Piano (1971) von Roman Haubenstock-Ramati (1919–1994) ist eine musikalische Grafik, die durch ihren Titel als Klavierstück ausgewiesen ist. Der Bildaufbau geht von horizontal angeordneten Notensystemen aus, die links oben durch die in der Klaviernotation typische geschweifte Klammer zusammengehalten werden. Gestört wird die Zeilenanordnung durch dreieckige Bildelemente, die offensichtlich Klangstrukturen oder Spieltechniken fordern, welche die formal-zeitliche Übersetzung der Seite in Musik erschweren.
Obwohl es zu dieser Grafik keine Legende gibt, kann der Leser durch seine Erfahrung mit grafischer Notation ein Konzept zur Umsetzung der Zeichen herauslesen.[1] Die geschlängelte horizontale Linie in der Mitte des oberen Dreiecks ähnelt einem Trillersymbol in der herkömmlichen Notenschrift. Einfache Punkte können als impulsartige Einzeltöne, non legato oder staccato interpretiert werden, deren Größe einer Lautstärke-Skala zugeordnet wird. Punkte mit einem Schweif, wie sie in der rechten Bildmitte zu sehen sind, stünden demnach für einen sukzessiv angeschlagenen Akkord mit ausgehaltenen Tönen. Neben diesen einzelnen grafischen Elementen finden sich Wucherungen, die als aleatorische[2] Geräuschverläufe interpretiert werden können. Die schwarzen Bildflächen assoziieren einen extrem dichten Klang, vielleicht einen Cluster über die ganze Klaviatur, während die weiß ausgesparten Flächen Pausen sein könnten.
Die abstrakte Form des Bildes ist auf ein zeitgebundenes, musikalisches Denken des Komponisten Haubenstock-Ramati zurückzuführen. Als Bild ermöglicht diese musikalische Grafik, die Form auf einen Blick[3] zu erfassen; sie kann aber auch im zeilenweisen Nacheinander als Musiktext gelesen werden.[4] Die Mehrdeutigkeit dieser musikalischen Grafik erfordert eine spontane Ausdeutung im Rahmen einer Interpretation.
[1] Einige dieser Zeichen wurden schon früher – in der üblich notierten Musik – mit einer ›konkreten‹ Bedeutung ausgestattet. Sie werden hier [bezieht sich auf die Serie ›Konstellationen‹] womöglich beibehalten. Die Bedeutung der neuen, bisher nicht verwendeten Zeichen wird entweder vom Komponisten angegeben oder die Entscheidung wird dem Interpreten (dem Beschauer) überlassen. Sie wird normalerweise entweder auf assoziativem Wege (ähnlich wie X oder Y) oder durch Elimination und Selektion (anders als X und Y) getroffen. zitiert nach: Roman Haubenstock-Ramati, »Musik und die abstrakte Malerei« (1971), in: ders., Musik-Grafik – Pre-Texte, Wien 1980, S. 49–51.
[2] Aleatorisch im Sinne von zufällig meint in diesem Zusammenhang eine vom Komponisten nur näherungsweise vorgegebene musikalische Struktur, die der Interpret eher als musikalische Geste denn als Tonfolge auszuführen hat. In konventionell notierten Partituren werden solche Gesten oft grafisch notiert und mit einer Erklärung versehen, die z. B. lautet: Unstrukturiert, so schnell wie möglich.
[3] Haubenstock-Ramati, »Musik und die abstrakte Malerei«, 1980, S. 49. Die Darstellung der Komposition auf einem Blatt ermöglicht ein zeitunabhängigeres Erfassen als eine mehrseitige Partitur oder zeitgebundene Tonaufnahme. In der musikalischen Grafik treffen sich die Zeitkunst Musik und die gemeinhin als zeitunabhängig bezeichnete bildende Kunst.
[4] Haubenstock-Ramati, »Musik und die abstrakte Malerei«, 1980, S. 49.